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BVerfG - Entscheidung vom 23.10.2007

2 BvR 542/07

Normen:
GG Art. 19 Abs. 4

Fundstellen:
NVwZ 2008, 417

BVerfG, Beschluss vom 23.10.2007 - Aktenzeichen 2 BvR 542/07

DRsp Nr. 2007/19734

Anforderungen an die Auslegung von Verfahrensanträgen durch die Fachgerichte

Es verletzt das Recht auf effektiven Rechtsschutz, wenn das Verwaltungsgericht einen Antrag auf Abänderung eines in Erlass einer einstweiligen Anordnung versagenden Beschlusses als unzulässig ablehnt, ohne in Betracht zu ziehen - und ggfls. darauf hinzuweisen -, dass es sich um einen neuen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung handeln könnte.

Normenkette:

GG Art. 19 Abs. 4 ;

Gründe:

I. Die Verfassungsbeschwerde betrifft die aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgenden Anforderungen an die Auslegung von Anträgen im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes durch die Verwaltungsgerichte.

1. Der Beschwerdeführer ist ein 28 Jahre alter türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste 2001 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ein erster Asylantrag blieb erfolglos. Ein sich anschließendes Klageverfahren wurde im Jahr 2004 ohne Erfolg für den Beschwerdeführer abgeschlossen.

2. Der Beschwerdeführer stellte im Juli 2006 einen Antrag auf Abänderung der Entscheidungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hinsichtlich der negativen Feststellungen zu § 53 AuslG . Er stützte diesen Antrag auf Stellungnahmen einer Klinik für Psychiatrie, in welcher er vorübergehend stationär aufgenommen worden war. Die behandelnden Ärzte diagnostizierten das Vorliegen einer Schizophrenie. Im Falle des Beschwerdeführers komme erschwerend hinzu, dass er traumatisiert sei. Schizophren erkrankte Menschen könnten traumatische Erlebnisse nicht kompensieren.

3. Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Oktober 2006 wurde der Antrag des Beschwerdeführers abgelehnt: Das Folgeschutzgesuch erfülle nicht die Zulässigkeitsvoraussetzung von § 51 Abs. 3 VwVfG . Der Beschwerdeführer habe nach eigenem Bekunden seit Jahren psychische Probleme. Ihm wäre es möglich gewesen, die Probleme vor Juli 2006 beim Bundesamt geltend zu machen. Es sei nicht erkennbar, dass bei einer Rückkehr in die Türkei aufgrund mangelnder Behandlungsmöglichkeiten eine wesentliche oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald drohe. Die medizinische Versorgung sei in der Türkei grundsätzlich gewährleistet; dies gelte auch für psychische Erkrankungen. Das vom Beschwerdeführer vorgelegte Gutachten sei nicht objektiv, was sich daraus ergebe, dass seine Aussagen und die seiner Familienangehörigen ungewertet übernommen worden seien. Auch sei eine psychologisch geschulte Dolmetscherin zur Begutachtung herangezogen worden, was die Neutralität der Begutachtung in Frage stelle.

4. Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid Klage, über die noch nicht entschieden worden ist: Das Gutachten belege seinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots. Der behandelnde Arzt solle als Sachverständiger zu der Frage der Suizidgefahr im Falle der Abschiebung vernommen werden. Unter Bezugnahme auf die Klageschrift stellte der Beschwerdeführer auch einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.

5. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 17. Januar 2007 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt: Ein Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht. Dies sei im Verfahren nach § 123 VwGO jedoch notwendig. Eine existentielle Gesundheitsgefährdung drohe dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nicht. Seine Erkrankung sei in der Türkei jedenfalls so weit behandelbar, dass sie bei dem gebotenen Mitwirken auf dem gegebenen Niveau gehalten und damit eine Verschlimmerung bis hin zur existentiellen Gefährdung verhindert werden könne. Es sei dem Beschwerdeführer zumutbar, seinen Lebensbereich in der Westtürkei zu begründen. Dort drohe keine Retraumatisierung. Die vorgelegten Ausführungen seines Psychiaters verhielten sich nicht zu der Frage, ob dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Türkei konkret die Retraumatisierung und Dekompensation drohe. Es werde allein der psychische Kausalzusammenhang zwischen einer Wiederbegegnung mit traumatisierenden Umständen aufgezeigt. Auch der Antragsschrift sei eine überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Retraumatisierung nicht zu entnehmen. Die Möglichkeit einer nicht auszuschließenden suizidalen Handlung sei daher ein ungewisses und kein konkretes Ereignis, das an nicht konkrete absehbare Entwicklungen anknüpfe und daher nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit im Falle der Rückkehr zu erwarten stehe.

6. Der Beschwerdeführer stellte am 12. Februar 2007 den Antrag, "unter Aufhebung des Beschlusses vom 17.01.2007 die Antragsgegnerin zu verpflichten, eine positive Feststellung des Inhalts zu treffen, dass vorläufig bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen," hilfsweise erhob er eine Gegenvorstellung: In einer neuen ärztlichen Stellungnahme vom 5. Februar 2007 werde die zielstaatsbezogene Gefährdung belegt. Dort wird unter anderem ausgeführt: Die Bewältigung der Traumatisierung werde beim Beschwerdeführer durch die Schizophrenie in hohem Maße beeinträchtigt. In seiner subjektiven Wahrnehmung gehe es bei Kontakt mit türkischen Personen immer um türkische Sicherheitskräfte, die ihm als Kurden gegenüberträten. Bei dieser Ausgangslage sei der nächste psychotische Schub vorprogrammiert. Der Ablauf eines Schubes sei völlig unkalkulierbar. Jeder Schub schädige unwiderruflich auf Dauer, wie dies bei allen schizophrenen Schüben der Fall sei.

7. Mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 15. Februar 2007 wurde der Antrag als unzulässig abgelehnt: Die Möglichkeit eines Abänderungsantrags sei auf stattgebende Anordnungsbeschlüsse begrenzt. Sei eine Eilentscheidung rechtskräftig abgelehnt, sei bei veränderten Umständen ein erneuter Anordnungsantrag zulässig und geboten. Das Gericht sehe keine Veranlassung, den vorliegenden Antrag gemäß § 88 VwGO auszulegen, da der Beschwerdeführer anwaltlich vertreten sei. Die hilfsweise erhobene Gegenvorstellung sei ebenfalls unzulässig. Seit dem Inkrafttreten von § 152a VwGO seien außerordentliche Rechtsbehelfe nicht mehr statthaft.

8. Mit der am 12. März 2007 erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer der Sache nach die Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG , Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG . Er macht geltend, der Antrag vom 12. Februar 2007 sei in seiner Formulierung eindeutig als neuer Antrag auf Feststellung, dass bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG vorliegen, gestellt worden.

9. Dem Land Hessen und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geht davon aus, dass der Verfassungsbeschwerde keine Erfolgsaussichten zukommen. Der dem Beschluss vom 15. Februar 2007 zugrunde liegende Antrag sei vom Verwaltungsgericht zu Recht als unzulässig angesehen worden. Richtigerweise hätte der Beschwerdeführer gegen den Beschluss vom 17. Januar 2007 einen Antrag auf Zulassung der Beschwerde nach § 146 Abs. 4 VwGO in Verbindung mit § 124 Abs. 2 VwGO stellen müssen. Es sei auch nicht ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht gehalten gewesen wäre, den Antrag des Beschwerdeführers wohlwollend auszulegen. Eine Umdeutung von Anträgen, die ein Rechtsanwalt stelle, sei nur in Ausnahmefällen möglich; dafür sei hier nichts ersichtlich.

II. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 15. Februar 2007 zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG ). Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG . Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG . Im Übrigen liegen die Voraussetzungen für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde nach § 93a BVerfGG nicht vor.

1. Die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angenommene Möglichkeit, einen Antrag auf Zulassung der Beschwerde gegen erstinstanzliche Beschlüsse in Verfahren nach dem Asylverfahrensgesetz zu stellen, steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen, da das Gesetz diesen Rechtsbehelf nicht kennt. Die Beschwerde ist in erstinstanzlichen Verfahren nach diesem Gesetz vielmehr ausgeschlossen (vgl. § 80 AsylVfG ).

2. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ).

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthält Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG eine Rechtsweggarantie des Inhalts, dass ein möglichst umfassender gerichtlicher Schutz gegen die Verletzung der Rechtssphäre des Einzelnen durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt zur Verfügung stehen muss (vgl. BVerfGE 8, 274 [326]; 25, 352 [365]; 51, 176 [185]; 54, 39 [41]; 67, 43 [58]; 96, 27 [39]). Gewährleistet ist der Rechtsweg im Rahmen der jeweiligen Prozessordnungen, so dass der Weg zu den Gerichten, insbesondere auch zur inhaltlichen Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung, von der Erfüllung und dem Fortbestand bestimmter formaler Voraussetzungen abhängig gemacht werden darf (vgl. BVerfGE 9, 194 [199 f.]; 10, 264 [267 f.]; 27, 297 [310]; 35, 65 [72 f.]; 40, 272 [274]; 77, 275 [284]). Die dem Gesetzgeber obliegende normative Ausgestaltung des Rechtswegs muss aber das Ziel dieser Rechtsgewährleistung, nämlich den wirkungsvollen Rechtsschutz, auch tatsächlich verfolgen und ermöglichen. Sie muss im Hinblick darauf geeignet und angemessen sowie für den Rechtsuchenden zumutbar sein (BVerfGE 77, 275 [284]). Der Zugang zu den Gerichten und zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 40, 272 [274 f.]; 78, 88 [99]; 88, 118 [124]). Entsprechendes gilt auch innerhalb des jeweils eingeleiteten Verfahrens, soweit es darum geht, sich dort effektiv Gehör verschaffen zu können (vgl. BVerfGE 81, 123 [129]). Der gerichtlichen Durchsetzung des materiellen Anspruchs dürfen auch hier nicht unangemessen hohe verfahrensrechtliche Hindernisse in den Weg gelegt werden (vgl. BVerfGE 53, 115 [128]). Insbesondere darf ein Gericht nicht durch die Art und Weise der Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar verkürzen (vgl. BVerfGE 84, 366 [369 f.]).

b) Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, den Antrag des Beschwerdeführers vom 12. Februar 2007 als unzulässig zu bewerten und ihn nicht in Anwendung von § 88 VwGO als neuerlichen Antrag nach § 123 VwGO auszulegen oder aber zumindest vor einer Entscheidung in Anwendung von § 86 Abs. 3 VwGO einen Hinweis auf mögliche Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit des gestellten Antrags zu geben, erschwert den Rechtsweg für den Beschwerdeführer in unzumutbarer Weise und verstößt somit gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG .

aa) Ausgehend vom Rechtsstandpunkt des Verwaltungsgerichts, dass bei Beschlüssen, mit welchen der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO abgelehnt worden ist, kein Raum für ein Abänderungsverfahren in analoger Anwendung von § 80 Abs. 7 VwGO sei, kann allerdings ein Antrag auf Abänderung oder Aufhebung des getroffenen Beschlusses aus prozessualen Gründen keinen Erfolg haben. Mit dieser Rechtsauffassung steht das Verwaltungsgericht nicht völlig allein (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO , 12. Aufl. 2006, § 123 Rn. 81), auch wenn von der wohl herrschenden Meinung die analoge Anwendbarkeit der Vorschrift bejaht wird (Kopp/Schenke, VwGO , 14. Aufl. 2005, § 123 Rn. 35; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO , 13. Ergänzungslieferung 2006, § 123 Rn. 177; Hessischer VGH , Beschluss vom 9. November 1995 - 6 TG 2992/95 -, NVwZ-RR 1996, S. 713). Jedoch ist dem Antrag des Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers eindeutig zu entnehmen, dass er - erneut - den Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt und dieses Begehren auf die neue sachverständige Äußerung stützt. Der Beschwerdeführer hat einen - auf vorläufige Feststellung eines Abschiebungshindernisses gerichteten - Sachantrag gestellt und diesem das Begehren, den abweichenden Beschluss vom 17. Januar 2007 aufzuheben, vorangestellt. Es liegt bereits fern, das Rechtsschutzbegehren des Beschwerdeführers allein von dem Aufhebungsantrag her zu verstehen. Jedenfalls hätte das Verwaltungsgericht ausgehend von seiner Rechtsauffassung entweder den Antrag des Beschwerdeführers nach § 88 VwGO zweckentsprechend als neuen Antrag nach § 123 VwGO auslegen oder aber dem Prozessbevollmächtigten des Beschwerdeführers einen Hinweis nach § 86 Abs. 3 VwGO auf die Rechtsauffassung des Gerichts zur Unzulässigkeit des gestellten Antrags geben müssen. Dies gilt umso mehr, als die Auffassung, die für Abänderungsanträge nach § 80 Abs. 7 VwGO bei ablehnenden Beschlüssen nach § 123 VwGO keinen Raum sieht, den Maßstab des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit eines neuerlichen Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung heranzieht (vgl. Happ, in: Eyermann, VwGO , 12. Aufl. 2006, § 123 Rn. 75). Damit unterscheiden sich die Auffassungen lediglich in der Begründung und im Lösungsweg, nicht jedoch im Ergebnis. Beide Auffassungen sehen es als zulässig an, neuerlich einstweiligen Rechtsschutz nachzusuchen, wenn sich relevante Umstände geändert haben.

bb) Die Annahme des Verwaltungsgerichts, wonach eine wohlwollende Auslegung des gestellten Antrags wegen anwaltlicher Vertretung des Beschwerdeführers nicht veranlasst gewesen sei, wird den Anforderungen, welche Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG an die Ausgestaltung von Verfahren stellt, nicht gerecht. Die Frage, inwieweit bei der Auslegung gestellter Anträge danach unterschieden werden kann und muss, ob der Antragsteller anwaltlich vertreten ist oder nicht (vgl. Rennert, in: Eyermann, VwGO , 12. Aufl. 2006, § 88 Rn. 9, m.w.N.), bedarf dabei keiner grundsätzlichen Klärung. Jedenfalls ist dann, wenn das Rechtsschutzziel klar aus dem Antrag und der Begründung des Antrags zu erkennen ist und dieses Rechtsschutzziel zulässigerweise verfolgt werden kann, die Verweigerung der inhaltlichen Behandlung des Vorbringens aufgrund eines Festhaltens an dem - wegen eines Teilaspekts der Formulierung - für unzulässig erachteten Antrags auch gegenüber einem anwaltlich vertretenen Antragsteller eine unzumutbare Erschwerung des Rechtswegs und damit unvereinbar mit den Anforderungen von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG . Unabhängig von der juristischen Vorbildung des Antragstellers oder seines Vertreters obliegt es den Fachgerichten, das erkennbare, wahre Rechtsschutzziel zur Grundlage einer Sachprüfung zu machen. Bestehen hinsichtlich des Rechtsschutzziels Zweifel, fordert Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG jedenfalls dann einen gerichtlichen Hinweis, wenn die Rechtslage nicht eindeutig ist. Dieses ist hier der Fall. In Literatur und Rechtsprechung werden verschiedene Auffassungen zur Zulässigkeit von Abänderungsanträgen nach einer ablehnenden Eilentscheidung vertreten. Bei verfassungskonformer Rechtsanwendung hätte das Verwaltungsgericht also den Antrag entweder als neuen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verstehen oder aber einen Hinweis nach § 86 Abs. 3 VwGO erteilen müssen.

cc) Die angegriffene Entscheidung erweist sich auch nicht als aus anderen Gründen im Ergebnis offensichtlich richtig, so dass der Beschwerdeführer aus der Zurückverweisung an das Verwaltungsgericht keinen Vorteil ziehen würde (vgl. BVerfGE 90, 22 [25 f.]). Es bestehen ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Antrag vom 12. Februar 2007 zulässig ist.

Der Beschwerdeführer hat mit der ärztlichen Stellungnahme vom 5. Februar 2007 eine neue sachverständige Äußerung in das Verfahren eingebracht, die sich ausdrücklich mit einer besonderen Anfälligkeit des Beschwerdeführers für neue psychotische Schübe, ausgelöst durch den Kontakt mit Repräsentanten des türkischen Staates, beschäftigt. Mit dieser behaupteten besonderen Vulnerabilität des Beschwerdeführers haben sich bisher weder das Bundesamt noch das Verwaltungsgericht hinreichend auseinandergesetzt. Das Verwaltungsgericht ist in seinem Beschluss vom 17. Januar 2007 von der Möglichkeit der Vermeidung einer Retraumatisierung durch ein Ausweichen auf Orte in der Westtürkei ausgegangen, während die neuere ärztliche Stellungnahme auf Gefährdungen verweist, die von der Wahl des dauerhaften Aufenthaltsorts innerhalb der Türkei unabhängig sind.

Angesichts der Tatsache, dass bei der Anwendung von § 80 Abs. 7 VwGO die Richtigkeitsgewähr der Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes im Vordergrund zu stehen hat (vgl. Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO , 13. Ergänzungslieferung 2006, § 80 Rn. 372; zur Gleichheit der Maßstäbe falls § 123 VwGO als die hier einschlägige Vorschrift angesehen wird, siehe unter II. 2. b) aa)), kann eine neue ärztliche Stellungnahme, die bereits bestehende medizinische Probleme präziser darstellt, jedenfalls dann als veränderter Umstand anzusehen sein, wenn die nach Auffassung des Arztes medizinisch wesentlichen Umstände in der zuvor getroffenen gerichtlichen Entscheidung nicht oder nur unzureichend erkannt worden sind. So liegt der Fall hier. Es geht hier nicht um eine abweichende Bewertung eines feststehenden Sachverhalts durch den Arzt des Beschwerdeführers, sondern um die Auffassung des Arztes, dass das Verwaltungsgericht nicht zutreffend erfasst habe, welche Art von Erlebnissen beim Beschwerdeführer zu erheblichen gesundheitlichen Problemen führen könnten. Auch bei der Anwendung des § 80 Abs. 7 VwGO ist zudem die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Sachaufklärungspflicht in Bezug auf Sachverhalte, deren Beurteilung medizinischen Sachverstand erfordert, zu berücksichtigen (BVerwG, Beschluss vom 23. Juli 2007 - 10 B 85.07 -; Beschluss vom 24. Mai 2006 - 1 B 118/05 -, NVwZ 2007, S. 345 [346]).

3. Der angegriffene Beschluss beruht auf der genannten Grundrechtsverletzung. Es ist nicht auszuschließen, dass das Verwaltungsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Darauf, ob die weiteren gerügten Grundrechtsverletzungen vorliegen, kommt es nicht an.

Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den Beschluss vom 15. Februar 2007 auf und verweist die Sache an das Verwaltungsgericht zurück.

III. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 17. Januar 2007 und gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Oktober 2006 richtet, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen; insoweit wird von einer Begründung abgesehen (§ 93a Abs. 2 , § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG ).

IV. Mit dieser Entscheidung erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.

V. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG .

Vorinstanz: VG Kassel, vom 15.02.2007 - Vorinstanzaktenzeichen 6 G 290/07
Vorinstanz: VG Kassel, vom 17.01.2007 - Vorinstanzaktenzeichen 6 G 2041/06
Fundstellen
NVwZ 2008, 417