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BGH - Entscheidung vom 31.07.2007

X ZR 150/03

Normen:
PatG § 1

BGH, Urteil vom 31.07.2007 - Aktenzeichen X ZR 150/03

DRsp Nr. 2007/18180

Zurückweisung der Nichtigkeitsklage betreffend ein Patent für einen Kindersicherheitssitz

Normenkette:

PatG § 1 ;

Tatbestand:

Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des am 26. August 1993 angemeldeten deutschen Patents 43 28 625 (Streitpatents), das einen Kindersicherheitssitz betrifft. Es umfasst drei Patentansprüche. Patentanspruch 1 lautet:

"Für ein Kraftfahrzeug vorgesehener Kindersicherheitssitz mit einer Sitzschale, die ein Rückenlehnenelement (14) aufweist, das mit einer Rückenlehne (16) und mit von der Rückenlehne (16) nach vorne stehenden Seitenwangen (18) und seitlich mit Löchern (20) ausgebildet ist, die jeweils durch einen umlaufenden, in sich geschlossenen Rand begrenzt und zum Durchstecken eines fahrzeugeigenen Dreipunkt-Sicherheitsgurtes (29) vorgesehen sind, mit dem der Kindersicherheitssitz an einem Fahrzeugsitz festlegbar ist, wobei die Löcher (20) im Übergangsbereich zwischen der Rückenlehne (16) und den Seitenwangen (18) des Rückenlehnenelements (14) derart ausgebildet sind, dass der Fahrzeug-Sicherheitsgurt (28) an der Vorderfläche der Rückenlehne (16) anliegt,

dadurch gekennzeichnet, dass jedes der beiden Löcher (20) oberseitig einen mit der Vorderfläche der Rückenlehne fluchtenden schlitzartigen Abschnitt (24) zur genauen Positionierung des Diagonalgurtes (32) des Fahrzeug-Sicherheitsgurtes (28) und einen daran nach unten anschließenden Erweiterungsabschnitt (26) aufweist."

Wegen der auf Patentanspruch 1 zurückbezogenen Patentansprüche 2 und 3 wird auf die Streitpatentschrift verwiesen.

Das Bundespatentgericht hat mit Urteil vom 5. August 2003 die Nichtigkeitsklage des Klägers, mit der dieser geltend macht, der Gegenstand des Patentanspruchs 1 des Streitpatents sei nicht neu und beruhe jedenfalls nicht auf erfinderischer Tätigkeit, abgewiesen. Hiergegen richten sich die Berufungen des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2, mit denen diese weiterhin erreichen wollen, dass das Streitpatent für nichtig erklärt wird. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Als gerichtlicher Sachverständiger hat Prof. Dipl.-Ing. C. W. ein schriftliches Gutachten erstellt, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.

Entscheidungsgründe:

Die zulässigen Berufungen sind nicht begründet. Auch über die Berufung der Berufungsklägerin zu 2, die im Termin nicht vertreten war, war durch streitiges Urteil zu entscheiden. Im Falle der Säumnis einer ordnungsgemäß geladenen Partei ist im Patentnichtigkeitsverfahren nicht durch Versäumnisurteil, sondern durch streitiges Urteil zu entscheiden (Sen.Urt. v. 01.02.1994 - X ZR 57/93, GRUR 1994, 360 - Schutzüberzug für Klosettbrillen; Urt. v. 30.04.1996 - X ZR 114/92, GRUR 1996, 757 - Tracheotomiegerät).

I. Das Streitpatent betrifft einen Kindersicherheitssitz für Kraftfahrzeuge. Die Streitpatentschrift beschreibt eingangs im Stand der Technik bekannte Ausführungen solcher Sitze, die jedoch alle mit Nachteilen verbunden seien. Bei dem Sitz nach US-Patentschrift 4 613 188 seien die Sitzplatte wie auch die Seitenwangen des Kindersitzes mit Schlitzen ausgebildet, die zur Aufnahme und Führung des fahrzeugeigenen Diagonalgurts dienten. Es handele sich aber um eine relativ komplizierte Ausbildung des Sitzes und der Führung des Gurtes. Im Übergangsbereich zwischen der Rückenlehne und der Sitzplatte seien Löcher vorgesehen, die aber nur sehr bedingt zur Aufnahme eines Sicherheitsgurtes geeignet seien, weil der Gurt am Rand des Lochs stark abgekrümmt werde, was sich nachteilig auf die Sicherheit auswirke (Sp. 1 Z. 6-26). Bei dem Kindersicherheitssitz nach der europäischen Patentschrift 0 331 299 B 1 stehe von der Rückseite der Sitzschale ein Flansch weg, was erhöhten Materialaufwand mit sich bringe und außerdem zu einem so großen Abstand von der Rückenlehne des Fahrzeugsitzes führe, dass die Fußfreiheit des Kindes beeinträchtigt werde (Sp. 1 Z. 27-44). Der Kindersitz nach der US-Patentschrift 4 883 315 sei mit nach rückwärts stehenden Laschen versehen, die Tragrahmen bildeten. Der fahrzeugeigene Sicherheitsgurt werde durch zwei Löcher in den Laschen gesteckt und liege dann nicht an der Vorderfläche der Rückenlehne des Kindes an, sondern er verlaufe an der Rückseite der Rückenlehne. Daher trage die Rückenlehne zur Festigkeit der Befestigung zwischen Kraftfahrzeugsicherheitsgurt und Kindersicherheitssitz nicht mit bei. Deshalb müssten die Laschen eine bestimmte mechanische Festigkeit besitzen, was wiederum nur mit entsprechendem Materialaufwand erreicht werden könne (Sp. 1 Z. 45 - Sp. 2 Z. 10). Schließlich habe der Kindersitz nach der deutschen Offenlegungsschrift 38 09 968 A 1 den Nachteil, dass er nicht mit einem fahrzeugeigenen Dreipunktgurt befestigt werden könne, weil sich dort zwar Löcher, die den Gurt aufnehmen könnten, im Übergangsbereich zwischen der Rückenlehne und den Seitenwangen des Rückenlehnenelements befänden und so ausgebildet seien, dass der Gurt an der Vorderfläche der Rückenlehne anliegen könne, die Ausführung der Löcher lasse jedoch eine besondere Positionierung des jeweiligen kraftfahrzeugeigenen Sicherheitsgurtes, mit welchem der Kindersicherheitssitz an dem Fahrzeugsitz befestigt sei, nicht zu oder könne diese nicht gewährleisten (Sp. 2 Z. 14-46).

Die Streitpatentschrift (Sp. 2 Z. 47-54) bezeichnet es vor diesem Hintergrund als Aufgabe der Erfindung, einen Kindersicherheitssitz zu schaffen, der mittels eines in einem Fahrzeug vorhandenen Dreipunktsicherheitsgurtes zuverlässig und zeitsparend an einem entsprechenden Fahrzeugsitz einfach und betriebssicher festlegbar ist, wobei das Rückenlehnenelement des Kindersicherheitssitzes direkt und eng an der Rückenlehne des Fahrzeugsitzes anliegt.

Dazu schlägt die Streitpatentschrift einen Kindersicherheitssitz mit folgenden Merkmalen vor:

1. Der Kindersicherheitssitz weist eine Sitzschale mit einem Rückenlehnenelement (14) auf;

2. das Rückenlehnenelement (14) ist

2.1 mit einer Rückenlehne (16) und

2.2 mit von der Rückenlehne (16) nach vorne stehenden Seitenwangen (18) ausgebildet;

3. das Rückenlehnenelement (14) ist seitlich mit Löchern (20) ausgebildet,

3.1 welche durch einen umlaufenden, in sich geschlossenen Rand begrenzt und

3.2 zum Durchstecken eines fahrzeugeigenen Dreipunktsicherheitsgurtes (28) vorgesehen sind, mit dem der Kindersicherheitssitz an einem Fahrzeugsitz festlegbar ist;

4. die Löcher (20) sind im Übergangsbereich zwischen der Rückenlehne (16) und den Seitenwangen (18) des Rückenlehnenelements (14) derart ausgebildet, dass der Fahrzeugsicherheitsgurt (28) an der Vorderfläche der Rückenlehne (16) anliegt;

5. jedes der beiden Löcher (20) weist

5.1 zur genauen Positionierung des Diagonalgurtes (32) des Fahrzeugsicherheitsgurtes (28) einen Abschnitt auf,

5.1.1 der sich an der Oberseite befindet,

5.1.2 mit der Vorderfläche der Rückenlehne fluchtet

5.1.3 und schlitzartig ausgebildet ist,

5.2 sowie einen daran nach unten anschließenden Erweiterungsabschnitt (26).

Folgt Graphik

Das Streitpatent beschreibt damit einen Kindersitz, der als Schalenelement (Merkmal 1) mit Rückenlehne und Seitenteilen (Merkmalsgruppe 2) ausgebildet ist. Im Übergang zwischen Rückenteil und Seitenteilen sind Öffnungen vorhanden, die einen besonders ausgestalteten Rand haben (Merkmalsgruppe 3). Die Löcher sind im Übergangsbereich zwischen der Rückenlehne und den Seitenwangen so ausgebildet, dass ein Dreipunktsicherheitsgurt einfach hindurch gesteckt werden kann und sodann an der Vorderseite der Rückenlehne anliegt (Merkmal 4). Die Verjüngung des seitlichen Schlitzes im oberen Bereich führt dazu, dass der fahrzeugeigene Dreipunktgurt nicht verdreht eingebaut werden und dieser sich auch im Betrieb und während des Crashfalls nicht verdrehen kann. Daraus folgt eine flächenbündige, auf der Vorderseite der Rückenlehne des Kindersitzes verlaufende Gurtanlage (Merkmalsgruppe 5).

II. Im Stand der Technik waren folgende Kindersicherheitssitze bekannt:

1. US-Patentschrift 4 613 188 (K 3).

Die Figuren 1 und 2 sind nachstehend wiedergegeben:

Folgt Graphik

Der Kindersitz nach dieser Schrift wird durch einen Beckengurt auf dem Fahrzeugsitz gehalten. Wenn er durch einen Dreipunktsicherheitsgurt fixiert werden soll, wird der Beckenteil des Gurtes seitlich von außen durch die Schlitze 78 über die Seitenwangen 76, dann durch die Schlitze 56, 58 unter der Sitzschale geführt; der Schulterteil des Gurtes verläuft hinter dem Kindersitz, ohne zu dessen Halterung beizutragen. Allerdings gibt die Entgegenhaltung auch eine Anordnung an, bei der ein Dreipunktsicherheitsgurt durch die Durchgangslöcher 80 an der Rückenlehne im Übergangsbereich zum Sitz geführt wird. In Sp. 4 Z. 19 bis 23 dieser Entgegenhaltung wird beschrieben, dass jeder Seitenlehnenteil 18 und 20 im Übergangsbereich zwischen dem Sitzflächenteil 14 und dem Rückenlehnenteil 16 mit einer Durchgangsöffnung versehen ist, durch die der Gurt geführt werden kann, "if necessary". Dies hat, worauf auch die Streitpatentschrift hinweist (Sp. 1 Z. 21-25), bei einem nicht in Becken- und Schultergurt teilbaren Dreipunktgurt zur Folge, dass der Gurt am Rand des entsprechenden Lochs stark abgekrümmt wird, was sich nachteilig auf die Sicherheit auswirkt.

2. Die europäische Patentanmeldung 0 388 473 (K 4) zeigt den folgenden Kindersicherheitssitz gemäß Figur 2 dieser Schrift:

Folgt Graphik

Die Schrift beschreibt die Fixierung des Kindersicherheitssitzes mittels eines fahrzeugeigenen Dreipunktgurtes in einer Vorrichtung hinter der Rückenlehne des Kindersitzes.

3. Die deutsche Offenlegungsschrift DE 38 09 968 (K 5) beschreibt einen Kindersicherheitssitz, der gemäß Figur 1

Folgt Graphik

ausgestaltet ist. Der Kindersitz nach dieser Schrift ist mit einer Vorrichtung versehen, die es auf einfache Weise ermöglicht, die Sitz- bzw. Liegeposition des Kindes zu verändern. Das Kind wird von einem in der Sitzschale befindlichen Gurtsystem gehalten. Es wird lediglich beschrieben, dass die Öffnungen 3 und 4 dazu dienen, den fahrzeugfesten Gurt durchzuführen. Die Lage und Form dieser Löcher erlaubt die Fixierung des Kindersitzes im Fahrzeug nur mit einem Beckengurt, mit einem ungeteilten Dreipunktgurt ist dies hingegen ausgeschlossen oder nur unter Inkaufnahme von Verdrehungen des Gurtes möglich.

4. Die deutsche Patentschrift 22 05 859 (K 6) gibt drei Ausführungsformen eines Kindersitzes an, die nachfolgend in den Figuren 2, 4 und 6 dargestellt sind:

Folgt Graphik

Bei der ersten Ausführungsform kommt nur ein Beckengurt zur Anwendung, der das Kind im Sitz hält, Öffnungen für den Gurt sind nicht vorhanden. Bei der zweiten Ausführungsform werden Schulter- und Beckengurt in zwei voneinander getrennte Führungen gebracht, nicht aber durch Löcher gesteckt, die mit der Vorderfläche der Rückenlehne fluchten. Bei der dritten Ausführungsform wird der Dreipunktgurt durch einen Durchlass gezogen, der hinter der Rückenlehne liegt. Insofern stimmt diese Lösung mit der Lösung nach K 4 überein.

III. Der Senat hat nicht die Überzeugung gewonnen, dass die Lösung des Streitpatents dem Fachmann durch den Stand der Technik nahegelegt war. Wie der gerichtliche Sachverständige überzeugend ausgeführt hat, sind typischerweise Ingenieure ((TU oder FH) der Studiengänge Fahrzeugtechnik oder Maschinenbau mit Vertiefung in Kraftfahrzeugtechnik), aber auch staatlich geprüfte Techniker mit mindestens drei Jahren Berufserfahrung als Entwickler von Kindersitzen tätig.

Bei Zugrundelegung einer derartigen Ausbildung und Berufserfahrung mag es - wie der gerichtliche Sachverständige ausgeführt hat - im Rahmen der Weiterentwicklung von Kindersicherheitssitzen nahegelegen haben, auch den Schultergurt eines fahrzeugeigenen Dreipunktgurts zur Festlegung des Kindersitzes auf dem Fahrzeugsitz zum Einsatz zu bringen. Dies macht einen geradlinigen Verlauf des Schultergurts erforderlich. Daraus ergibt sich, dass die zum Durchführen des fahrzeugeigenen Gurts bestimmten Schlitze einerseits größer sein und andererseits weiter nach oben reichen müssen, als dies im Stand der Technik der Fall war.

Mit den entsprechenden Änderungen der Schlitze zur Durchführung des fahrzeugeigenen Gurts ist die Lösung des Streitpatents jedoch nicht erreicht. Entweder wird auch bei solchen Lösungen der Schultergurt des fahrzeugeigenen Dreipunktgurtes an der Rückseite der Rückenlehne des Kindersitzes geführt oder durch den Verlauf des Gurtes an der Vorderfläche des Kindersitzes eine stabile Rückenanlage des Kindes verhindert. Letzteres lässt sich dadurch ändern, dass eine zweite Tragstruktur ausgebildet wird, die die Rückenlehne für das Kind bildet und hinter der der fahrzeugeigene Sicherheitsgurt geführt wird. Der Sachverständige hat dies in seinem schriftlichen Gutachten dargelegt und durch die Abbildung 6 erläutert. Dort wird ein Kindersitz dargestellt, bei dem zwei Tragstrukturen ausbildet sind, nämlich eine Tragstruktur der Rückenlehne für das Kind und eine Tragstruktur für das Gesamtsystem, die durch den fahrzeugeigenen Sicherheitsgurt beansprucht wird. Bei diesem Kindersitz verläuft der fahrzeugfeste Dreipunktgurt hinter der Rückenlehne des Kindersitzes zwischen beiden Tragstrukturen. Solche Lösungen benötigen jedoch zusätzlichen Bauraum, der im Crashfall nicht zur Verfügung steht und deshalb nachteilig für die Sicherheit des Kindes ist, die das wichtigste Entwicklungskriterium darstellt. Bei der Lösung des Problems, unter dem Gesichtspunkt den Bauraum zu verringern, wird der Fachmann, wie der gerichtliche Sachverständige weiter überzeugend ausgeführt hat, jedoch in erster Linie darauf verfallen, Änderungen am verwendeten Werkstoff oder der Geometrie des Kindersitzes vorzunehmen. Dies bringt ihn nicht zur Lösung des Streitpatents. Der Stand der Technik, wie er unter II dargestellt wurde, zeigt, dass die Fachwelt in diese Richtung gedacht hat, nicht jedoch an die Ausgestaltung der Schlitze gemäß Merkmalsgruppen 4 und 5 des Streitpatents, die dazu führt, dass eine flächenbündige Gurtanlage auf der Vorderseite der Rückenlehne des Kindersitzes gewährleistet wird. Im Hinblick auf die dazu erforderliche Kombination der dargelegten - möglicherweise jeweils für sich genommen kleinen - Schritte kann der Senat jedenfalls nicht feststellen, dass eine erfinderische Tätigkeit nicht erforderlich war, um zur Lehre des Streitpatents zu gelangen.

Mit Patentanspruch 1 haben die Patentansprüche 2 und 3, die Ausgestaltungen des Kindersitzes betreffen, ebenfalls Bestand.

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG in Verbindung mit § 97 ZPO .

Vorinstanz: BPatG, vom 05.08.2003 - Vorinstanzaktenzeichen 4 Ni 23/02