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BGH - Entscheidung vom 26.07.2006

5 StR 232/06

Normen:
StGB § 20

BGH, Beschluß vom 26.07.2006 - Aktenzeichen 5 StR 232/06

DRsp Nr. 2006/22534

Verwahrlosung als Hinweis auf eine schwere andere seelische Abartigkeit

Verwahrlosung kann - neben anderen - ein Hinweis auf das Vorliegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit sein.

Normenkette:

StGB § 20 ;

Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt und das Tatmesser eingezogen. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge den aus dem Tenor ersichtlichen Teilerfolg. Auf die mit der Ablehnung der beantragten Begutachtung der Schuldfähigkeit des Angeklagten begründete - abgesehen von der Benennung eines "psychologischen" Sachverständigen ebenfalls aussichtsreiche - Verfahrensrüge kommt es nicht mehr an.

1. Das Landgericht hat Folgendes festgestellt:

Der 1956 geborene, ledig gebliebene Angeklagte hielt zu niemandem besonderen persönlichen Kontakt. Im ausgeübten Beruf als Feinmechaniker war er leistungsbereit und trotz Ablegung der Meisterprüfung stets als Vorarbeiter in der Programmentwicklung für computergesteuerte Maschinen tätig. Der Angeklagte erwarb 1992 zur Erlangung steuerlicher Vorteile eine darlehensfinanzierte Eigentumswohnung und beteiligte sich an einem Immobilienfonds. Bis 1994 gab der Angeklagte ordnungsgemäße Einkommensteuererklärungen ab, bis 1999 nur noch Anträge auf Lohnsteuerermäßigung. Es kam zu hohen Steuerfestsetzungen auf Grund von Schätzungen, die der Angeklagte ab 2003 nicht mehr erfüllen konnte. Ein Vollstreckungsbeamter des Finanzamts stellte im Frühjahr 2003 fest, dass der Angeklagte zunehmend im Chaos lebe und es nicht einsehe, Steuererklärungen abgeben zu sollen. Der Angeklagte ließ Rechnungen und sonstige Briefe überall in seiner Wohnung ungeöffnet liegen. Er "fühlte sich hilflos und von seinen Schulden erdrückt, sah sich in einer ausweglosen Lage und blieb daher seit dem 5. Oktober 2005 unentschuldigt der Arbeit fern" (UA S. 5). Am 6. Oktober 2005 wurde die Eigentumswohnung des Angeklagten zwangsversteigert. Der Angeklagte trank verstärkt Alkohol, "wusch weder ab, noch entsorgte er Müll oder räumte auf. Geschirr mit Essensresten stand in der Küche, und Dreck war überall zu finden, sodass die Wohnung einem Chaos glich" (UA S. 5).

Der Angeklagte fasste den Entschluss, bevor er sich selbst töten würde, "einen von denen (vom Finanzamt) mitzunehmen, egal wen" (UA S. 6). Am 10. Oktober 2005 betrat er das Büro der für ihn vertretungsweise zuständigen Finanzbeamtin. Er legte eine Zeitung und zwei Schreiben des Finanzamts auf ihren Schreibtisch, um die Frau abzulenken. Die Beamtin gab die Steuernummer des Angeklagten in ihren Rechner ein. Der Angeklagte zog ein 30 Zentimeter langes Küchenmesser aus dem linken Jackenärmel, nahm es in die rechte Hand und versetzte der Beamtin aus Wut und Verzweiflung (UA S. 12) plangemäß und zielgerichtet einen tiefen Stich in die Brust, der nach unten gerichtet die Leber durchstach und eine Schlagader zwischen Leber und Magen durchtrennte. Das Leben der Beamtin konnte nach umfangreicher intensivmedizinischer Versorgung gerettet werden.

2. Das Landgericht hat - neben dem fehlerfrei festgestellten Mordmerkmal der Heimtücke - ein Handeln aus sonstigen niedrigen Beweggründen angenommen und die Voraussetzungen des § 21 StGB ohne sachverständige Hilfe verneint. Es seien "keinerlei Anknüpfungstatsachen auf (die) Eingangskriterien des § 20 StGB erkennbar. Hinweise auf einen allenfalls noch am ehesten in Betracht kommenden Affekt gab es nicht. Die Tat war vorbereitet und vom Angeklagten planmäßig herbeigeführt" (UA S. 14).

3. Diese Erwägungen halten sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand, auch wenn vorliegend ein Ausschluss der Schuldfähigkeit offensichtlich nicht in Betracht kommt. Das Landgericht hat die festgestellten Besonderheiten in der Persönlichkeit des Angeklagten und das auffällige Tatgeschehen nicht unter dem Gesichtspunkt einer schweren anderen seelischen Abartigkeit im Sinne des § 20 StGB und im Umfang des § 21 StGB gewürdigt (vgl. BGHSt 37, 397 , 400), obwohl - wie es der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in BGHSt 49, 45 , 53 dargelegt hat - aus dem psychiatrischen Schrifttum taugliche, auch hier anwendbare Entscheidungskriterien zur Verfügung gestanden hätten (vgl. auch Nedopil, Forensische Psychiatrie 2. Aufl. S. 152 ff.), deren Anwendung freilich schon im Blick auf die heranzuziehenden diagnostischen Hilfsmittel der Erläuterung durch einen psychiatrischen Sachverständigen bedurft hätte (vgl. BGH aaO. S. 51; vgl. auch BGHSt 49, 347 , 355).

4. Der aufgezeigte Rechtsfehler erfasst auch die Feststellung des Mordmerkmals der Tötung aus niedrigen Beweggründen, weil solches eine Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe maßgeblichen Faktoren und der Umstände erfordert, die (möglicherweise) eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit begründen (vgl. BGHR StGB § 211 Abs. 2 Niedrige Beweggründe 34 m.w.N).

5. Der neue Tatrichter wird demnach mit Hilfe eines psychiatrischen Sachverständigen den psychischen Zustand des Angeklagten bei Tatbegehung aufzuklären und eine Tötung aus niedrigen Beweggründen zu untersuchen und zu bewerten sowie die Strafe neu zu bestimmen haben. Da nicht gänzlich ausgeschlossen ist, dass auch eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in Betracht kommen kann, war der gesamte Rechtsfolgenausspruch - bis auf die Einziehung - mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben.

Vorinstanz: LG Hamburg, vom 27.01.2006