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BSG - Entscheidung vom 23.02.2005

B 2 U 409/04 B

Normen:
SGB X § 40 Abs. 1

BSG, Beschluß vom 23.02.2005 - Aktenzeichen B 2 U 409/04 B

DRsp Nr. 2005/8732

Offensichtlicher Fehler im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren

Im Sinne von § 40 Abs. 1 SGB X ist ein Fehler nur dann offensichtlich, wenn ein Durchschnittsbürger ohne besondere Sachkenntnis den Fehler erkennen konnte. [Nicht amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Normenkette:

SGB X § 40 Abs. 1 ;

Gründe:

Die gegen die Nichtzulassung der Revision im angefochtenen Urteil des Landessozialgerichts (LSG) gerichtete, auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung gestützte Beschwerde ist unzulässig. Die dazu gegebene Begründung entspricht nicht der in § 160 Abs 2 und § 160a Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes ( SGG ) festgelegten Form. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erfordern diese Vorschriften, dass der Zulassungsgrund schlüssig dargetan wird (BSG SozR 1500 § 160a Nr 34, 47 und 58; vgl hierzu auch Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Aufl, 2002, IX, RdNr 177 und 179 mwN). Daran mangelt es hier.

Nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat. In der Beschwerdebegründung muss nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG diese grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache aufgezeigt werden. Hierzu ist zunächst darzulegen, welcher bestimmten abstrakten Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung beigemessen wird (BSG SozR 1500 § 160a Nr 11). Denn die Zulassung der Revision erfolgt zur Klärung grundsätzlicher Rechtsfragen und nicht zur weiteren Entscheidung des Rechtsstreits. Die abstrakte Rechtsfrage ist klar zu formulieren, um an ihr die weiteren Voraussetzungen für die begehrte Revisionszulassung nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG prüfen zu können (Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 181). Dazu ist erforderlich, dass ausgeführt wird, ob die Klärung dieser Rechtsfrage grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat. Die Rechtsfrage darf sich nicht auf den Einzelfall in dem Sinne beschränken, ob das LSG nach unrichtigen rechtlichen Maßstäben entschieden habe (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7; Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 58). Weiter hat der Beschwerdeführer darzulegen, dass die Rechtsfrage klärungsbedürftig, also zweifelhaft, und klärungsfähig, mithin rechtserheblich ist, so dass hierzu eine Entscheidung des Revisionsgerichts zu erwarten ist (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 1; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 16). Zur Klärungsfähigkeit gehört auch, dass die Rechtsfrage in einem nach erfolgter Zulassung durchgeführten Revisionsverfahren entscheidungserheblich ist (BSG Beschluss vom 11. September 1998 - B 2 U 188/98 B -).

Die Klärungsbedürftigkeit ist zu verneinen, wenn die Rechtsfrage bereits höchstrichterlich beantwortet ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 51; BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 und 65) oder wenn die Antwort unmittelbar aus dem Gesetz zu ersehen ist (BSG SozR 1300 § 13 Nr 1), wenn sie so gut wie unbestritten ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 17), wenn sie praktisch außer Zweifel steht (BSG SozR 1500 § 160a Nr 4) oder wenn sich für die Antwort in anderen Entscheidungen bereits ausreichende Anhaltspunkte ergeben (BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2 und § 160 Nr 8; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 117; Krasney/Udsching, aaO, IX, RdNr 66).

Hinsichtlich der von den Klägerinnen für grundsätzlich bedeutsam gehaltenen Frage, ob "§ 157 Abs. 1 SGB VII deshalb verfassungswidrig ist, weil der Unfallversicherungsträger den Gefahrtarif als autonomes Recht setzen darf, ohne dass er vom Gesetzgeber der Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts entsprechende ausreichende Vorgaben für die Bildung der Gefahrklassen erhalten hat", haben die Klägerinnen deren Klärungsfähigkeit in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht schlüssig dargestellt. Die Klägerinnen verweisen (S 7 der Beschwerdebegründung) auf die Auffassung des LSG, wonach Streitgegenstand allein die Beitragsbescheide seien und es daher auf die Verfassungsmäßigkeit des die Grundlage der nicht angefochtenen Veranlagungsbescheide bildenden § 157 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch ( SGB VII ) hier nicht ankomme. Diese - zutreffende - Auffassung des LSG greifen die Klägerinnen mit der Formulierung von zwei weiteren Rechtsfragen an, nämlich ob "unter Hinweis auf einen nicht angefochtenen Veranlagungsbescheid die Klärung einer grundsätzlichen bedeutsamen verfassungsrechtlichen Frage abgelehnt werden kann" sowie ob "ein Veranlagungsbescheid, der auf einem verfassungswidrigen Gefahrtarif beruht, nur anfechtbar und nicht vielmehr nichtig gemäß § 40 Abs. 1 SGB ist". Insbesondere die zweite Frage belegt, dass die Klägerinnen die rechtlichen Zusammenhänge zutreffend erfassen, indes unzutreffend würdigen. Hinsichtlich der beiden zuletzt genannten Fragen haben die Klägerinnen es nämlich versäumt, deren Klärungsbedürftigkeit schlüssig darzustellen. Die Beantwortung der Fragen ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz und bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren. Unterstellt, ein Veranlagungsbescheid beruhte auf einem "verfassungswidrigen Gefahrtarif" (verfassungswidrigen Ermächtigungsnorm zum Erlass des Gefahrtarifs), ist dieser Bescheid rechtswidrig, nicht aber nichtig. Seine Bindungswirkung ist zu beachten und bildet die Grundlage für den Erlass eines Beitragsbescheides.

Da hinsichtlich des Veranlagungsbescheides das Vorliegen eines Nichtigkeitstatbestandes nach § 40 Abs 2 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch ( SGB X ) weder ersichtlich noch von den Klägerinnen vorgetragen ist, ist § 40 Abs 1 SGB X anzuwenden, wonach ein Verwaltungsakt nichtig ist, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist. Zwar mag es vertretbar sein zu behaupten, eine verfassungswidrige gesetzliche Ermächtigungsgrundlage führte stets zu einem besonders schwerwiegenden Fehler des auf sie gestützten Verwaltungsakts. Nach den Kriterien des § 40 Abs 1 SGB X "offensichtlich" kann dieser Fehler indes schon deshalb nicht sein, weil Maßstab für die Offensichtlichkeit der Durchschnittsbürger ist, der ohne besondere Sachkenntnis den Fehler erkennen können musste (vgl nur Roos in von Wulffen, SGB X 4. Auflage 2001, § 40 RdNr 10 mwN). Angesichts des Umstandes, dass insbesondere die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bis hin zum BSG § 157 SGB VII als verfassungsgemäß beurteilt haben (s BSG SozR 4-2700 § 157 Nr 1 RdNr 29 - 31) und eine gegenteilige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht vorliegt, ist es keinesfalls vertretbar, einen auf diese Norm gestützten Veranlagungsbescheid als "offensichtlich" rechtswidrig zu qualifizieren.

Soweit die Klägerinnen unter II. der Beschwerdebegründung die Frage für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung halten, ob "die §§ 150 Abs. 1 , 152 Abs. 1 und 153 Abs. 1 SGB VII insoweit verfassungswidrig sind, als sie ohne die erforderliche Einschränkung den Berufsgenossenschaften die ständige Erhöhung der Beiträge auch über das Maß hinaus ermöglichen, durch das in den Kern des Ertrags der wirtschaftlichen Betätigung von Unternehmen eingegriffen wird", bestehen schon Zweifel, ob es sich um eine abstrakte Rechtsfrage im eingangs dargestellten Sinne handelt. Denn die Frage knüpft an einen tatsächlichen Begriff (Eingriff in den Kern des Ertrags der wirtschaftlichen Betätigung von Unternehmen) an, ohne dass ersichtlich ist, was damit rein tatsächlich gemeint ist, und dass in dem vorliegenden Rechtsstreit von derartigen Umständen auszugehen ist. Hierfür wäre jedenfalls erforderlich, dass darüber das Revisionsgericht bindende tatsächliche Feststellungen des LSG vorlägen (§ 163 SGG ), die das Revisionsgericht zwingend rechtlich zu beurteilen hätte. Insoweit fehlt es auch an der schlüssigen Darlegung der Klärungsfähigkeit im Sinne der Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage in dem angestrebten Revisionsverfahren. Schließlich ist auch die Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage nicht schlüssig dargestellt, denn so wie sie formuliert ist, lässt sich auch diese Frage praktisch ohne Zweifel beantworten. Die §§ 150 , 152 und 153 SGB VII erlauben durchaus Eingriffe in den Kern des Ertrags unternehmerischer Betätigung, denn sie legitimieren den jeweils zuständigen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, seinen Finanzbedarf (Umlagesoll) als Umlage von den beitragspflichtigen Unternehmern nach den Arbeitsentgelten der Versicherten und den Gefahrklassen zu decken.

Die Beschwerde ist daher als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbs 2 iVm § 169 SGG ).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG .

Vorinstanz: Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht - L 5 U 81/02 - 28.10.2004,
Vorinstanz: SG Lübeck, vom 21.03.2002 - Vorinstanzaktenzeichen S 17 U 209/01