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BSG - Entscheidung vom 25.08.2005

B 3 P 16/05 B

Normen:
SGB XI § 14 Abs. 4
SGG § 62 § 118 Abs. 1
ZPO § 395 § 402 § 411

BSG, Beschluß vom 25.08.2005 - Aktenzeichen B 3 P 16/05 B

DRsp Nr. 2006/2205

Gerichtliche Begutachtung im sozialgerichtlichen Verfahren durch mündliches Sachverständigengutachten, rechtliches Gehör

1. Auch im Bereich der gerichtlichen Begutachtung des Pflegebedarfs liegt es im Ermessen des Gerichts, einen Sachverständigen nicht mit einem schriftlichen Gutachten über den nach Untersuchung im häuslichen Umfeld festzustellenden Pflegebedarf eines Versicherten zu beauftragen, sondern ihn im Termin ein mündliches Gutachten erstatten zu lassen. Dabei ist den Beteiligten ausreichend rechtliches Gehör zu gewähren. 2. Bei Gutachten mit zahlreichen Einzelfeststellungen muss sichergestellt sein, dass die Beteiligten den Darlegungen eines Sachverständigen folgen, alle wesentlichen Einzelheiten erfassen, Fragen stellen und Vorhaltungen machen können. Dies gilt insbesondere bei Beteiligten, die keine juristischen oder medizinischen Kenntnisse haben und anwaltlich nicht vertreten sind. [Nicht amtlich veröffentlichte Entscheidung]

Normenkette:

SGB XI § 14 Abs. 4 ; SGG § 62 § 118 Abs. 1 ; ZPO § 395 § 402 § 411 ;

Gründe:

I

Der bei der beklagten Pflegekasse versicherte Kläger bezieht seit 1998 Pflegegeld der Pflegestufe I. Einen im Mai 2000 gestellten Antrag auf Eingruppierung in die Pflegestufe II lehnte die Beklagte ab. Klage und Berufung des Klägers blieben nach Beweisaufnahme erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) hat festgestellt, dass der Kläger statt des für die Pflegestufe II nach § 15 Abs 3 Nr 2 Elftes Buch Sozialgesetzbuch ( SGB XI ) erforderlichen durchschnittlichen täglichen Grundpflegebedarfs von mindestens 120 Minuten lediglich einen Grundpflegebedarf von 64 Minuten aufweist (Urteil vom 29. April 2005). Grundlage der Entscheidung war vor allem ein vom Sachverständigen Dr. T. in der mündlichen Verhandlung am 29. April 2005 erstattetes Gutachten, das auf einer Untersuchung des Klägers in seiner häuslichen Umgebung am 11. April 2005 sowie auf der Auswertung der Gerichts- und Verwaltungsakten und der darin enthaltenen medizinischen Berichte und Gutachten beruhte. Ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 29. April 2005 hat der Sachverständige sein schriftlich vorbereitetes Gutachten in der Beweisaufnahme verlesen. Es ist in dieser Form als Anlage zur Sitzungsniederschrift genommen und zusammen mit dieser den Beteiligten übersandt worden.

Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG wendet sich der Kläger mit seiner persönlich erhobenen Beschwerde vom 22. Juni 2005, die er mit einem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) verbunden hat. Er macht geltend, der Sachverständige und - ihm folgend - das LSG hätten den Hilfebedarf bei einigen Verrichtungen zu Unrecht ganz außer Betracht gelassen und bei mehreren anderen Verrichtungen zu knapp bemessen. Zudem sei sein Anspruch auf rechtliches Gehör nach § 62 Sozialgerichtsgesetz ( SGG ) verletzt worden, weil er keine Gelegenheit gehabt habe, sich mit dem ihm damals noch nicht schriftlich vorliegenden, "schnell vorgelesenen" Gutachten in der gebotenen Weise auseinander zu setzen und so die Möglichkeit genommen worden sei, "ruhige und sachliche Nachfragen zu stellen".

II

Es kann offen bleiben, ob der Kläger nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen in der Lage wäre, die Kosten für die Inanspruchnahme eines Rechtsanwalts selbst aufzubringen. PKH kann ihm nach § 73a SGG iVm § 114 Zivilprozessordnung ( ZPO ) jedenfalls nicht bewilligt werden, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine Aussicht auf Erfolg hat. Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

Gemäß § 160 Abs 2 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn

1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder

2. das Urteil des LSG von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG), des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

3. ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Bestimmte Verfahrensrügen sind jedoch nur eingeschränkt oder gar nicht geeignet, die Zulassung der Revision zu begründen (§ 160 Abs 2 Nr 3 , 2. Halbsatz SGG ).

Nach der im PKH-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten des Rechtsmittels liegt keiner der Zulassungsgründe des § 160 Abs 2 SGG vor.

1) Das Verfahren wirft keine Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG ). Das LSG hat die Klage mangels Erfüllung der zeitlichen Voraussetzungen der Pflegestufe II nach § 15 Abs 3 Nr 2 SGB XI abgewiesen, ohne dass sich bei dieser Entscheidung eine höchstrichterlich noch nicht geklärte, über den vorliegenden Einzelfall hinausreichende Rechtsfrage gestellt hätte. Dass die in den Begutachtungs-Richtlinien (BRi) für die verschiedenen Verrichtungen des § 14 SGB XI genannten Zeitwerte bzw Zeitrahmen lediglich allgemeine Richtwerte darstellen, die für die Sachverständigen und Gerichte nicht bindend sind, sondern nur Orientierungs- und Entscheidungshilfen darstellen, hat das BSG bereits entschieden. Maßgebend ist stets der im konkreten Einzelfall nach den dort gegebenen besonderen Verhältnissen erforderliche Hilfebedarf (vgl BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 9, 10, 11 und 14). Ebenso hat das BSG bereits entschieden, dass ein bestimmter Hilfebedarf, der nicht mindestens einmal wöchentlich, sondern nur in längeren Abständen anfällt, bei der Bemessung des Pflegebedarfs nicht berücksichtigt werden darf, weil nicht ein Tagesdurchschnitt pro Jahr oder Monat, sondern pro Woche nach dem Gesetz maßgebend ist. Gleiches gilt bei einem permanent vorhandenen Hilfebedarf, der auf Grund bestimmter Umstände, die nicht wenigstens einmal wöchentlich auftreten, nur zeitweise erhöht ist (vgl BSG SozR 3-3300 § 15 Nr 1 und 11).

2) Das LSG-Urteil weicht auch nicht von der höchstrichterlichen Rechtsprechung ab, sodass der Zulassungsgrund der Divergenz nicht besteht (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG ). Das LSG hat in den Entscheidungsgründen keinen Rechtssatz aufgestellt, der von einem vom BSG entwickelten Rechtssatz abweichen würde.

3) Das Berufungsverfahren weist auch keine die Zulassung der Revision begründenden Verfahrensmängel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG auf. Es bestehen zwar Hinweise darauf, dass das LSG den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG ) verletzt hat, jedoch kann der Kläger nicht mit Erfolg geltend machen, dass das LSG-Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruht, der Klage also bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs voraussichtlich hätte stattgegeben werden müssen.

Es liegt auch im Bereich der gerichtlichen Begutachtung des Pflegebedarfs im Ermessen des Gerichts, einen Sachverständigen nicht mit einem schriftlichen Gutachten (§ 411 ZPO ) über den - nach Untersuchung im häuslichen Umfeld festzustellenden - Pflegebedarf eines Versicherten zu beauftragen, sondern ihn im Termin ein mündliches Gutachten erstatten zu lassen, ohne dass dabei bereits ein schriftliches Gutachten vorliegt (§ 118 Abs 1 SGG iVm §§ 402 , 395 ff ZPO ). Wählt das Gericht ein mündliches Gutachten, hat es darauf zu achten, dass den Beteiligten ausreichend rechtliches Gehör gewährt wird, bevor der Rechtsstreit entschieden wird. Gerade bei Gutachten, in denen es um zahlreiche Einzelfeststellungen geht, wie es bei der Feststellung des täglichen Pflegebedarfs anhand des Verrichtungskatalogs des § 14 SGB XI regelmäßig der Fall ist, muss sichergestellt sein, dass die Beteiligten den Darlegungen eines Sachverständigen folgen, alle wesentlichen Einzelheiten erfassen, Fragen stellen und Vorhaltungen machen können. Dies gilt insbesondere bei Klägern, die - wie hier - keine juristischen oder medizinischen Kenntnisse haben und anwaltlich nicht vertreten sind. Gegebenenfalls muss Gelegenheit gegeben werden, sich fachlich beraten zu lassen und abschließend schriftsätzlich Stellung zu nehmen, ehe eine Entscheidung zur Hauptsache getroffen wird. Bei Gutachten zur Pflegebedürftigkeit empfiehlt sich daher, in der Regel ein schriftliches Gutachten einzuholen, damit die Beteiligten ausreichend Zeit haben, sich mit den Feststellungen des Sachverständigen auseinander zu setzen und schriftsätzlich Stellung zu nehmen (vgl Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG , 8. Aufl 2005, § 118 RdNr 12, 12a und § 128 RdNr 7b; Krasney/ Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl 2005, III RdNr 72, 73; Schnorr SGb 1994, 421).

Nach diesen Kriterien ist davon auszugehen, dass dem Kläger im Berufungsverfahren nicht hinreichend rechtliches Gehör gewährt worden ist. Wird ein - wie hier - umfangreiches, schriftlich vorbereitetes Gutachten vom Sachverständigen verlesen, erscheint es ausgeschlossen, dass der Kläger bei nur einmaligem Hören alle wesentlichen Details sofort erfassen und in der Lage sein konnte, alle Abweichungen zu seinem Sachvortrag zu erkennen und sachgerechte Fragen zu stellen. Dies gilt umso mehr, als der schriftliche Entwurf des Gutachtens, der vom Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung zu den Akten gereicht worden ist, dem Kläger nicht sofort ausgehändigt, sondern erst zusammen mit der Sitzungsniederschrift und dem Urteil zugesandt worden ist. So war der Kläger für seine Vorhaltungen nur auf seine Notizen angewiesen, die er während der Aussage des Sachverständigen gemacht hat. Dies reicht zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör grundsätzlich nicht aus. Für eine Verkürzung dieses Rechts spricht zudem, dass die mündliche Verhandlung nur 24 Minuten gedauert hat, obgleich nach den Akten zahlreiche Einzelpunkte umstritten waren und der Kläger daher kaum in der Lage gewesen sein dürfte, alle mit seinem Sachvortrag nicht übereinstimmenden Feststellungen des Sachverständigen in der Kürze der Zeit aufzugreifen und mit Fragen zur Sache darauf zu reagieren.

Ein solcher Verfahrensfehler kann nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG jedoch nur dann zur Zulassung der Revision führen, wenn er für die Entscheidung wesentlich gewesen ist. Der Kläger müsste mit Erfolg darlegen können, dass der Verfahrensmangel für das Ergebnis kausal geworden ist, also ohne diesen Verfahrensfehler der Klage hätte stattgegeben werden müssen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer aaO § 62 RdNr 11a, 11b und § 160a RdNr 16e). Dafür bestehen jedoch keine hinreichenden Anhaltspunkte.

Der Sachverständige durfte - wie erwähnt - von den BRi bei der konkreten Beurteilung des Pflegebedarfs abweichen. Maßnahmen der Behandlungspflege (wie zB die Herrichtung und Reinigung des Beatmungsgeräts) werden vom Verrichtungskatalog des § 14 SGB XI prinzipiell nicht erfasst und dürfen deshalb bei der Grundpflege nicht berücksichtigt werden (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 2, 3, 7, 11). Im Übrigen geht es allenfalls um eine geringfügige Erhöhung des Grundpflegebedarfs (wie zB bei der Reinigung des Wannenlifters als Hilfe beim Baden). Es ist daher nicht ersichtlich, dass der tägliche Grundpflegebedarf, der vom Sachverständigen und dem LSG mit 64 Minuten beziffert worden ist, tatsächlich um 56 Minuten zu niedrig bemessen worden ist, also - wie erforderlich - 120 Minuten betrug.

Soweit in dem Vorbringen des Klägers zugleich die Rüge einer unzulänglichen Beweiswürdigung gesehen werden sollte, scheidet eine Revisionszulassung ebenfalls aus, denn eine Verfahrensrüge kann nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht auf eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden.

Die persönlich eingelegte Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision war gemäß § 160a Abs 4 Satz 2 iVm § 169 SGG ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig zu verwerfen. Die Beschwerde hätte innerhalb der bis zum 25. Juli 2005 reichenden Begründungsfrist von einem gemäß § 166 SGG zur Vertretung vor dem BSG zugelassenen Prozessbevollmächtigten begründet werden müssen. Dies ist nicht geschehen und kann auch nicht mehr nachgeholt werden. Wegen Ablehnung der PKH kommt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG ) nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG .

Vorinstanz: Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht - L 3 P 9/04 - 29.04.2005,
Vorinstanz: SG Lübeck, vom 24.05.2004 - Vorinstanzaktenzeichen S 8 P 98/00