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Rückführung eines Kindes aus der Pflegefamilie

Das Bundesverfassungsgericht hat die Voraussetzungen des vorläufigen Rechtschutzes bei der Rückführung eines Kindes aus einer Pflegefamilie näher erläutert. Demnach sind die Nachteile, die beim Erlass einer einstweiligen Anordnung drohen, gegen die drohende Kindeswohlbeeinträchtigung und Gefahren abzuwägen, denen das Kind bei einer Versagung des Erlasses ausgesetzt sein könnte.

Sachverhalt

Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich das Jugendamt als Verfahrensbeistand gegen eine Entscheidung des OLG, durch die den Eltern das Sorgerecht unter Auflagen zurückübertragen und die Rückführung des Kindes aus der Pflegefamilie zu den leiblichen Eltern angeordnet wurde. Das Kind wurde im November 2014 in der 30. Schwangerschaftswoche von einer damals 25-Jährigen geboren, die bis kurz vor der Entbindung ihre Schwangerschaft nicht bemerkt haben will. Mit dem Kind und seinem Vater lebte sie zunächst bei dessen Eltern, bis sie Anfang März 2015 eine gemeinsame Wohnung bezogen. Sie heirateten im Mai 2015 und erwarten im Mai 2017 ein weiteres gemeinsames Kind.

Wegen Schreiattacken und Gewichtsverlusts wurde das Kind ins Krankenhaus gebracht, wo Blähbauch und Verstopfung diagnostiziert wurden. Nach stationärer Behandlung und Gewichtszunahme wurde das Kind Anfang Januar 2015 zu den Eltern entlassen. Bei einem Routinetermin wurden diskrete Hämatome an den Gliedmaßen des Kindes festgestellt; Röntgenaufnahmen zeigten ältere Rippenserienfrakturen. Der Verdacht einer Kindesmisshandlung wurde gemeldet. Mitte Februar 2015 wurden die Eltern mit den Verletzungen konfrontiert; die Vorwürfe, dass derartige Verletzungen nur durch massive Gewalteinwirkung entstehen könnten, wiesen sie zurück. Daraufhin nahm das Jugendamt das Kind in Obhut und brachte es in einer Bereitschaftspflegefamilie unter.

Die Eltern hatten zunächst einmal wöchentlich begleiteten Umgang. Laut rechtsmedizinischem Gutachten sind die Hämatome bei einem drei Monate alten Kind nur durch äußere Einwirkung, etwa durch vermehrtes Festhalten bei pflegerischen Maßnahmen, zu erklären. Auch wenn diese Befunde für einen Säugling auffällig und ungewöhnlich seien, ließen sie keine weiteren Schlussfolgerungen zu. Die Rippenbrüche seien nur durch eine massive Brustkorbkompression – und nicht durch ungeschickten Umgang oder festeres Zufassen – zu erklären, mithin durch eine kräftige Gewalteinwirkung. Rippenbrüche seien durch die ständigen Atemexkursionen schmerzhaft.

Im April 2015 wurde der allein sorgeberechtigten Mutter das Sorgerecht vorläufig entzogen und die Vormundschaft dem Jugendamt übertragen. Die Eltern, die das Kind die ganze Zeit allein beaufsichtigt haben wollen, hätten sich die Verletzungen nicht erklären können. Daher sei eine Gefährdung des Kindes nicht auszuschließen.

Aufgrund der bei den Eltern festgestellten erheblichen Defizite wie unterlassener Medikamenteneinnahme gegen Epilepsie und Überforderung bei der Mutter sowie mangelhafter Emotionalität, defizitären Einfühlungsvermögens und kritischen Alkoholkonsums beim Vater sei von einem hohen Wiederholungsrisiko auszugehen, verbunden mit potenziell weitreichenden Folgen angesichts des entwicklungs- und altersbedingt noch erhöhten Schutz- und Betreuungsbedarfs des Kleinkindes und fehlender Möglichkeiten des selbstständigen Schutzes durch das Kind.

Dieses Risiko lasse sich durch aufsuchende Hilfen nicht ausreichend reduzieren. Aufgrund ihrer mangelnden Erziehungsfähigkeit sind die Eltern nicht in der Lage, die wesentlichen Bedürfnisse ihres Kindes zu erkennen und verantwortungsvoll zu handeln. Daher wurde im Hauptsacheverfahren im Februar 2016 den Eltern die elterliche Sorge entzogen und die Vormundschaft durch das Jugendamt angeordnet, um eine schwerwiegende Gefahr für das Kind abzuwenden. Das Kind lebt seit April 2016 in einer Pflegefamilie und hat alle zwei Monate einen einstündigen Besuchskontakt mit seinen Eltern.

Auf die Beschwerde der Eltern hat das OLG im Oktober 2016 unter Aufhebung der Vormundschaft die elterliche Sorge auf die Eltern zurückübertragen und angeordnet, das Kind binnen sechs Wochen zu den Eltern zurückzuführen. Zugleich hat es angeordnet, die zur Verfügung gestellten Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen. Das OLG hat die weitere Herausnahme des Kindes aus seiner Ursprungsfamilie nicht mehr als erforderlich angesehen, weil der Gefährdung des demnächst zweijährigen Kindes mit milderen Mitteln als der dauernden Trennung begegnet werden könne.

Dagegen hat das Jugendamt wegen Verletzung der Grundrechte des Kindes aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 und 2 GG Verfassungsbeschwerde eingelegt. Durch die Rückübertragung werde das Kind unzumutbaren Gefährdungen ausgesetzt. Die angegriffene Entscheidung weise sowohl Fehler, die auf einer unrichtigen Anschauung der Bedeutung der Grundrechte des Kindes beruhten, als auch Auslegungsfehler auf. Zugleich hat das Jugendamt den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, mit der es die Aussetzung der Wirksamkeit des angegriffenen Beschlusses begehrt.

Wesentliche Aussagen der Entscheidung

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg. Ist dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten, kann das BVerfG im Streitfall einen Zustand nach § 32 Abs. 1 BVerfGG durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln. Die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, haben dabei i.d.R. außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache verfolgte Begehren erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet.

Somit hat das BVerfG die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegen die Nachteile abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe.

Nach diesen Maßstäben hält das BVerfG den Erlass einer einstweiligen Anordnung für geboten. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig; aufgrund seiner einfachgerichtlichen Bestellung als Verfahrensbeistand ist der Beschwerdeführer auch befugt, Verfassungsbeschwerde einzulegen und damit die Rechte des Kindes in eigenem Namen geltend zu machen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 22.05.2013 – 1 BvR 372/13). Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht offensichtlich unbegründet. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass das OLG die einschlägigen verfassungsrechtlichen Vorgaben für den staatlichen Schutz der Grundrechte des Kindes nicht ausreichend beachtet hat.

Die Folgenabwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, bestünde zum einen die Gefahr, dass das Kind mindestens zweimal einem Wechsel seiner engsten Betreuungspersonen ausgesetzt wäre, was in Anbetracht seines jungen Alters und seiner Beeinträchtigung durch bereits zuvor erfahrene Wechsel seiner Betreuungspersonen mit erheblichen Belastungen verbunden wäre.

Zu Wechseln der Betreuungsperson war es in der Vergangenheit aufgrund mehrerer stationärer Krankenhausaufenthalte in den ersten drei Lebensmonaten, des Wechsels zu einer Bereitschaftspflegefamilie im Alter von drei Monaten und des Wechsels zur aktuellen Pflegefamilie im Alter von 16 Monaten gekommen. Durch den angegriffenen Beschluss des OLG müsste das erst zweijährige Kind an seine leiblichen Eltern herausgegeben werden, zu denen es derzeit nur eine Stunde Umgang in zweimonatlichem Abstand hat. Dies wäre neben dem Verlust seiner engsten Bezugspersonen – seiner Pflegeeltern – auch mit einem Wechsel des vertrauten häuslichen Umfelds verbunden.

Hätte die Verfassungsbeschwerde später Erfolg, müsste das Kind erneut einen Wechsel seiner Bezugspersonen und seiner persönlichen Umgebung zurück zu den Pflegeeltern verkraften. Dabei wäre bis zu einer erneuten Entscheidung des OLG offen, wie dieses über den Entzug der elterlichen Sorge nach der Zurückverweisung durch das BVerfG entscheidet. Möglicherweise würde das Kind noch ein drittes Mal den erheblichen Belastungen einer Änderung seiner engsten Kontakte ausgesetzt. Die drohenden mehrfachen Wechsel des Zuhauses und der unmittelbaren Bezugspersonen würden das stark vorbelastete Kind in erheblichem Maß beeinträchtigen.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, wäre zum anderen zu befürchten, dass das Kind durch die Rückkehr zu seinen leiblichen Eltern den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Gefahren körperlicher und seelischer Beeinträchtigung ausgesetzt wäre. Angesichts der körperlichen Schädigung, die das Kind vor der Inobhutnahme bereits erwiesenermaßen erlitten hatte, wiegt dies schwer.

Erginge die beantragte einstweilige Anordnung hingegen, bliebe das Kind bis zum Abschluss des Verfahrens bei den Pflegeeltern in seiner derzeit vertrauten Umgebung. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als unbegründet, würden sich die Rückkehr des Kindes zu seinen leiblichen Eltern und damit auch die vollständige Ausübung des Elternrechts durch die Eltern um den – allerdings überschaubaren – Zeitraum bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde verzögern.

Wägt man die Folgen gegeneinander ab, wiegen die Nachteile, die im Fall des Erlasses der einstweiligen Anordnung drohen, weniger schwer als die durch mehrfache Ortswechsel drohende erhebliche Kindeswohlbeeinträchtigung und eine im jetzigen Verfahrensstadium in der Obhut der Eltern nicht auszuschließende besondere Gefahrenlage, denen das Kind im Fall der Versagung des Erlasses der einstweiligen Anordnung ausgesetzt sein könnte.

Folgerungen aus der Entscheidung

Das BVerfG hat somit die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegen die Nachteile abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde jedoch der Erfolg versagt bliebe. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, i.d.R. außer Betracht zu bleiben. Das BVerfG hat einzuschätzen, welche Wechsel der Betreuungspersonen und des vertrauten häuslichen Umfelds bereits stattgefunden haben, welche möglicherweise noch bevorstehen und welche Gefahren für das Kindeswohl abzusehen sind.

Dabei kommt es ggf. zu dem Ergebnis, dass die im Fall des Erlasses einer einstweiligen Anordnung drohenden Nachteile weniger schwer wiegen als die durch mehrfache Ortswechsel drohende erhebliche Kindeswohlbeeinträchtigung und eine bei den Eltern nicht auszuschließende besondere Gefahrenlage für das Kind. Dabei stellt das BVerfG schwerpunktmäßig auf das Alter des Kindes und dessen bereits erlittene Schädigung ab und stellt das Kindeswohl vor das Interesse der Eltern an der elterlichen Sorge.

Sofern sich das Kind bereits seit mehreren Monaten in einer vertrauten Umgebung bei einer Pflegefamilie befindet, würde die Ablehnung einer beantragten einstweiligen Anordnung die Umsetzung des angegriffenen Beschlusses, i.d.R. also die Herausgabe des Kindes an die leiblichen Eltern innerhalb weniger Wochen bedeuten. Sofern aber der Fall im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde zu einer abschließenden rechtlichen Prüfung ansteht, ist die Herausgabe des Kindes an seine leiblichen Eltern eine unnötige Maßnahme.

Aufgrund nicht abzusehender Gefahren für ein Kind und des offenen Ausgangs einer Verfassungsbeschwerde ist zum Schutz des Kindes eine solche Maßnahme zu vermeiden. Erweist sich die Verfassungsbeschwerde letztlich als unbegründet, haben die Eltern nur für einen überschaubaren Zeitraum ihre elterliche Sorge und den Umgang mit ihrem Kind verloren.

Praxishinweis

Die elterliche Sorge umfasst das Recht und zugleich auch die Pflicht der Eltern, für ihr minderjähriges Kind zu sorgen. Diese Sorge stellt ein wesentliches Rechtsgut der Eltern dar, das zugleich auch die Pflicht umfasst, für das körperliche und seelische Wohl des Kindes zu sorgen. Die Verantwortung der Eltern überwachen muss der Staat. Können die Eltern ihre Pflicht nicht eigenverantwortlich erfüllen, erhalten sie vom Staat Unterstützung. Die Pflicht des Staates einzuschreiten entsteht jedoch, wenn die Eltern ihre Verantwortung nicht wahrnehmen oder bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung Grenzen überschreiten. Der Gesetzgeber sieht vor, dass das Maß des Eingriffs so gering wie möglich sein muss. Das Gericht muss somit sorgsam abwägen, wie massiv der Eingriff in die Verantwortung der Eltern zum Schutz des Kindes zu sein hat.

Bei einer Abwägung im Rahmen der Entscheidung über eine einstweilige Anordnung sind auch die möglicherweise nur vorübergehenden Auswirkungen auf das Kindeswohl zu berücksichtigen. Das BVerfG lehnt eine möglicherweise kurzzeitige Herausgabe von Kindern ab, wenn die aufgrund der bisher erlittenen Schädigung eines Kindes bestehende Gefahr nicht abzusehen ist, die Ursachen für die körperliche Schädigung nicht abschließend ermittelt wurden und die Vermutung im Raum steht, diese sei durch die Eltern verursacht worden.

Darüber hinaus lehnt das BVerfG eine möglicherweise kurzzeitige Herausgabe von Kindern ab, wenn im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde eine abschließende rechtliche Prüfung ansteht, die zu einer endgültigen Entscheidung über den künftigen Lebensmittelpunkt eines Kindes führen wird. Sofern diese endgültige Entscheidung in absehbarer Zeit ansteht, ist den Eltern das Abwarten zum Wohl ihres Kindes zuzumuten.

BVerfG, Beschl. v. 05.12.2016 – 1 BvR 2569/16